Wie alles begann – Agoraphobie und andere Ängste, Teil 2

Nun hatte ich also verstanden und erfahren, dass ich Angst hatte. Diffuse Angst davor, das etwas Schlimmes passieren könnte. Und konkrete Angst davor, verrückt zu werden. Ich sprach nicht darüber, denn ich fühlte mich schon so verrückt, dass ich befürchtete, die Verrücktheit würde sich mit dem Aussprechen meiner Gefühle richtig Bahn brechen.

Ich hatte Alpträume, Herzrasen.

Ich lebte mein Leben. Ich blieb unauffällig. Ich war eine gute und brave Schülerin, die aber auch ihre Meinung sagen konnte. So richtig angepasst war ich nie. Ich kaufte mir Schuhe in Schwarz und das gleiche Paar noch einmal in Pink und trug immer je eine Farbe an einem Fuß. Und trotzdem war ich nicht ich. Konnte mich niemandem zeigen. Und trug meine Angst jeden Tag mit mir herum.

Ich hatte Angst etwas zu essen, dass Übelkeit auslösen konnte. Ich aß keine Pilze, keinen Fisch, keine Mayonnaise. Ich aß eigentlich nie auswärts und wenn dann nur mit Angst.

Auf Klassenfahrten und -Ausflügen reagierte ich schon Tage bis Wochen vorher mit Angstgefühlen, dort angekommen, hatte ich Schlafstörungen und körperliche Beschwerden.

Ich war aber auch Klassensprecherin.

In Kaufhäusern hatte ich manchmal Panikattacken. Ich fühlte mich im Neonlicht in Klassenzimmer unwohl. Ich ging nicht mit meinen Freundinnen zum Schwimmen. Aber das durfte ich auch gar nicht. Denn das war Teil eines Vermeidungsverhaltens, das gar nicht meines war: Meine Mutter hatte Angst um mich. Sie erlaubte wenig. Ich durfte so gut wie nie bei Freundinnen schlafen. Ich durfte nicht auf Jugendfreizeiten. Ich durfte nicht alleine mit dem Rad zu meinen Freundinnen fahren. Ich durfte abends nicht ins Kino gehen. Und wenn ich doch etwas durfte, dann wurde ich von ihr im Auto hin gebracht und zu einer vorher vereinbarten Zeit wieder abgeholt. Und wenn ich nicht pünktlich dort aus dem Haus trat, klingelte sie und kam rein und schimpfte mit mir. Auch als ich schon 15, 16, 17 war. So viel Scham.

Es gab also gar keine Fragen. Die Sachen, vor denen ich Angst hatte, die durfte ich nicht machen. Also bemerkte auch niemand meine Angst.

Irgendwann in dieser Zeit zwischen 13 und 16 las ich einen Artikel in einer Frauenzeitschrift, der krankhafte Angst und Agoraphobie thematisierte. Zwei kurze Seiten, oberflächlich. Aber für mich eine Erleichterung! Ich war gar nicht verrückt! Danach ging es mir über einen richtig langen Zeitraum richtig viel besser. Der Artikel hatte einen Teil der Ängste von mir genommen.

Dann kam der Sommer in dem ich mit meiner Mutter (wem sonst?) nach England in den Urlaub fuhr. England, war ein Traum für mich. Zwei Wochen mit meiner Mutter auf einem winzigen Bed- and Breakfastzimmer eher ein Alptraum. Diese Frau, die meine beste Freundin sein wollte, aber meine Mutter war. Und ich voller Teenager-Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer. Voller Sehnsucht nach meinen Freunden und Eigenständigkeit. Andere machten zu der Zeit schon Interrail. Ich hätte mich mit niemand anderem als mit meiner Mutter in den Urlaub getraut.

Beim Einkauf in einer Boutique in Torquay hatte ich dann wieder eine meiner schlimmsten Panikattacken. Es überfiel mich einfach. Hitze, Schwindel, Übelkeit, Herzrasen. Wir mussten den kleinen Laden fluchtartig verlassen.

Den Rest des Urlaubes verbrachte ich in diffuser Angst. Auf der Hinfahrt hatte mir der Aufenthalt in London auf dem Bahnhof noch gefallen, konnte die Fährfahrt trotz Ängsten als Abenteuer erleben. Die Rückreise war eine einzige Tortur. Angst, Angst, Angst. Gefahr, überall Gefahr.

Daran inwieweit sich neuerlich erlebte heftige Panikattacke nach meiner Rückkehr auf  meinen Alltag auswirkte, kann ich mich nicht erinnern. Das 10. Schuljahr scheint  mir dennoch ein recht fröhliches Jahr gewesen zu sein. Aber klar war, dass ich nicht mit auf die große Klassenübergreifende Jahrgangsstufenfahrt zum Ski fahren mit fahren würde. Niemals! Obwohl ich gut integriert war, nette Freunde und Freundinnen hatte. Niemals wäre ich mit auf diese Fahrt gegangen. Aber auch da, keine Frage: Meine Mutter fand es gut, dass ich nicht mit fahren würde. Sie wollte mich ja kontrollieren können. Sie fragte auch nicht, warum ich nicht fahren will. „Keine Lust“ reichte ihr als willkommener Grund.

Erst schoben wir das fehlende Geld vor. Da gab es aber Zuschüsse und Hilfen. Alle wollten mir das Mitfahren ermöglichen.

Dann tat ich so, als würde ich aus Umweltschutzgründen nicht mit fahren wollen. Skifahren? Nein? Das zerstört die Umwelt. So konnte ich zu Hause bleiben. Traurig und froh zugleich. Ich fühlte mich ausgeschlossen und einsam.

Hier geht es zu Teil 1

Teil 3

Wie alles begann – Agoraphobie und andere Ängste, Teil 1

Meine erste bewusst als solche erlebte Panikattacke hatte ich im Alter von 13 Jahren in einem Einkaufzentrum. Es war Sommer und wir verbrachten zwei Wochen in den Ferien bei meinem Opa in der Nähe einer Großstadt. Es war das Jahr in dem mein Vater ausgezogen war.

Ich war mit meiner Mutter unterwegs, wir waren in einem Kaufhaus ganz am Ende der Einkaufspassage –  von hier aus, war der Ausgang am Weitesten entfernt.

Meine Mutter wollte in der Schuhabteilung gucken und ich nebenan bei den Süßigkeiten, schon ganz kurz nachdem ich Richtung Süßigkeiten los bin, fühlte ich auf einmal Übelkeit und wollte zu meiner Mutter zurück kehren, die ich eigentlich noch direkt hinter mir wähnte. Aber sie war nicht da. Und ich geriet in Panik, fühlte mich auf einmal völlig allein und gefangen in diesem Kaufhaus und wollte nur an die frische Luft, weil ich Angst hatte mich dort mit in der Schuhabteilung übergeben zu müssen. Also rannte ich los, raus aus dem Kaufhaus, durch den Gang voller Leute quer durch das ganze Einkaufszentrum. Ich rannte so schnell ich nur konnte, mit einem zerspringendem Herz, trockener Kehle und zitternd. Ich rempelte rücksichtslos die Menschen an, die mir im Weg waren. ich wollte nur raus.

Endlich draußen angelangt, setzte ich mich auf einen Blumenkübel und inhalierte die kühlere Luft. Ich beruhigte mich etwas. Aber ich wollte auf gar keinen Fall wieder da rein. Nur meine Mutter wusste ja gar nicht wo ich bin. Eine Zwickmühle. Denn weiter hier draußen allein zu sein, das machte mir auch schon wieder Angst.

Also lief ich auf eine Frau zu, die nett aussah, wie ich fand. Ich war ziemlich aufgelöst. Ich war 12 Jahre alt. Und ich sagte ihr, dass mir so schlecht sei, aber meine Mutter mich suchen würde. Ob sie bitte für mich in das Kaufhaus gehen könne um einen Ausruf machen zu lassen, dass ich draußen wartete? Sie sagte nein. Und ging einfach weiter.

Heute ist es Teil meiner Ängste, dass mir draußen zwischen all den Leuten niemand hilft, wenn es mir schlecht geht.

Ich schämte mich unendlich.

Da ich mich sehr verzweifelt fühlte, blieb mir kein anderer Ausweg als noch einmal in das EKZ zu gehen. Ich rannte. Ich raste den Weg zurück durch die Menschenmenge zum Kaufhaus. Genauso panisch wie zuvor. Zitternd kam ich am Kaufhaus an, vor dem ein Verkaufsstand aufgebaut war hinter dem zwei Verkäuferinnen standen. Ich fühlte mich überhaupt nicht in der Lage dieses Kaufhaus noch einmal zu betreten. Ich war Angst. Mein ganzer Körper war Panik. Ich bettelte also die beiden Frauen an das für mich zu übernehmen. Sie wollten nicht, diskutieren, aber schließlich konnte ich sie überzeugen. Und raste sofort wieder zurück an die rettende Frischluft.

Wieder an meinem Blumenkübel angelangt, setzte ich mich und wartete. An diese Zeit kann ich mich nicht erinnern, aber dann kam irgendwann meine Mutter verwirrt aus dem Gebäude und ich fing an mich wieder besser zu fühlen. Ich weiß nicht  mehr, was ich meiner Mutter erzählt habe oder was sie gesagt hat. Ich weiß nur, dass ich mich sehr beschämt fühlte und nach wie vor voller Angst.

Die Panik wirkte nach. Tage und wochenlang. Sie schwelt ein mir. Besonders abends, wenn ich im Bett lag und versuchte zu schlafen. Ich wusste wovor ich Angst hatte: mich irgendwann wieder so tödlich unsicher zu fühlen. Jemals wieder so eine Panikattacke erleben zu müssen.

Heute weiß ich, dass die Panik nicht aus heiterem Himmel kam. Schon am Tag zuvor war ich mit meiner im Kaufhaus auf einer Rolltreppe, als ich plötzlich unsagbare Kopfschmerzen im Hinterkopf bekam, von jetzt auf gleich. Wir sind sofort zurück zu meinem Opa gefahren, ich wollte einfach nur Ruhe. Niemand konnte sich diese plötzliche Kopfschmerzattacke erklären. Nie wieder hatte ich in meinem Leben solche Kopfschmerzen. Aber mein Opa hatte Tabletten (ich habe heute den Verdacht, dass er damit auch Missbrauch betrieb, weil er manchmal starke Stimmungsschwankungen hatte), er hatte einen Arzt in seinem Freundeskreis von dem er eigentlich rezeptpflichtige Sachen so bekam. Er gab mir also ein starkes Schmerzmittel von dem ich dann innerhalb ein paar Minuten eingeschlafen bin und Stunden tief schlief. Danach waren die Schmerzen weg, aber ich fühlte mich wie nicht mehr von dieser Welt. Ich denke, dass die Panikattacke am nächsten Tag von dem Medikament angestoßen wurde – aber auch die Kopfschmerzattacke war ja schon nicht normal. Da bahnte sich ohnehin etwas an.

Angst hatte ich immer. Lange schon. Trennungsangst in der Grundschule. Obwohl ich mich wohl fühlte in meiner Klasse, mich nicht anstrengen musste und trotzdem Klassenbeste war, viele Freund*innen hatte. Aber es gab Zeiten, da hatte ich Angst davor in die Schule zu gehen. Heute weiß ich, dass das Trennungsangst war. Und in dieser Zeit entwickelte ich auch eine Emetophobie – Angst vor dem Erbrechen. Ich sprach mit niemandem über die Ängste und erfand Ausreden.

Ich hatte mindestens zwei Mal in der Grundschulzeit abends kurz vor dem Einschlafen Panikattacken (habe weder ich, noch sonst jemand als solche erkannt damals) mit starkem Herzrasen, so dass der Kinderarzt gerufen wurde. Oft erwachte ich nachts voller Angst und legte mich zu meinen Eltern ins Bett. Am nächsten Morgen tat ich immer so, als könne ich mich nicht erinnern und sei geschlafwandelt. Schon damals, mit 8, 9 Jahren habe ich mich geschämt.

Soviel für heute.

Lies hier Teil 2

Teil 3