Nun hatte ich also verstanden und erfahren, dass ich Angst hatte. Diffuse Angst davor, das etwas Schlimmes passieren könnte. Und konkrete Angst davor, verrückt zu werden. Ich sprach nicht darüber, denn ich fühlte mich schon so verrückt, dass ich befürchtete, die Verrücktheit würde sich mit dem Aussprechen meiner Gefühle richtig Bahn brechen.
Ich hatte Alpträume, Herzrasen.
Ich lebte mein Leben. Ich blieb unauffällig. Ich war eine gute und brave Schülerin, die aber auch ihre Meinung sagen konnte. So richtig angepasst war ich nie. Ich kaufte mir Schuhe in Schwarz und das gleiche Paar noch einmal in Pink und trug immer je eine Farbe an einem Fuß. Und trotzdem war ich nicht ich. Konnte mich niemandem zeigen. Und trug meine Angst jeden Tag mit mir herum.
Ich hatte Angst etwas zu essen, dass Übelkeit auslösen konnte. Ich aß keine Pilze, keinen Fisch, keine Mayonnaise. Ich aß eigentlich nie auswärts und wenn dann nur mit Angst.
Auf Klassenfahrten und -Ausflügen reagierte ich schon Tage bis Wochen vorher mit Angstgefühlen, dort angekommen, hatte ich Schlafstörungen und körperliche Beschwerden.
Ich war aber auch Klassensprecherin.
In Kaufhäusern hatte ich manchmal Panikattacken. Ich fühlte mich im Neonlicht in Klassenzimmer unwohl. Ich ging nicht mit meinen Freundinnen zum Schwimmen. Aber das durfte ich auch gar nicht. Denn das war Teil eines Vermeidungsverhaltens, das gar nicht meines war: Meine Mutter hatte Angst um mich. Sie erlaubte wenig. Ich durfte so gut wie nie bei Freundinnen schlafen. Ich durfte nicht auf Jugendfreizeiten. Ich durfte nicht alleine mit dem Rad zu meinen Freundinnen fahren. Ich durfte abends nicht ins Kino gehen. Und wenn ich doch etwas durfte, dann wurde ich von ihr im Auto hin gebracht und zu einer vorher vereinbarten Zeit wieder abgeholt. Und wenn ich nicht pünktlich dort aus dem Haus trat, klingelte sie und kam rein und schimpfte mit mir. Auch als ich schon 15, 16, 17 war. So viel Scham.
Es gab also gar keine Fragen. Die Sachen, vor denen ich Angst hatte, die durfte ich nicht machen. Also bemerkte auch niemand meine Angst.
Irgendwann in dieser Zeit zwischen 13 und 16 las ich einen Artikel in einer Frauenzeitschrift, der krankhafte Angst und Agoraphobie thematisierte. Zwei kurze Seiten, oberflächlich. Aber für mich eine Erleichterung! Ich war gar nicht verrückt! Danach ging es mir über einen richtig langen Zeitraum richtig viel besser. Der Artikel hatte einen Teil der Ängste von mir genommen.
Dann kam der Sommer in dem ich mit meiner Mutter (wem sonst?) nach England in den Urlaub fuhr. England, war ein Traum für mich. Zwei Wochen mit meiner Mutter auf einem winzigen Bed- and Breakfastzimmer eher ein Alptraum. Diese Frau, die meine beste Freundin sein wollte, aber meine Mutter war. Und ich voller Teenager-Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer. Voller Sehnsucht nach meinen Freunden und Eigenständigkeit. Andere machten zu der Zeit schon Interrail. Ich hätte mich mit niemand anderem als mit meiner Mutter in den Urlaub getraut.
Beim Einkauf in einer Boutique in Torquay hatte ich dann wieder eine meiner schlimmsten Panikattacken. Es überfiel mich einfach. Hitze, Schwindel, Übelkeit, Herzrasen. Wir mussten den kleinen Laden fluchtartig verlassen.
Den Rest des Urlaubes verbrachte ich in diffuser Angst. Auf der Hinfahrt hatte mir der Aufenthalt in London auf dem Bahnhof noch gefallen, konnte die Fährfahrt trotz Ängsten als Abenteuer erleben. Die Rückreise war eine einzige Tortur. Angst, Angst, Angst. Gefahr, überall Gefahr.
Daran inwieweit sich neuerlich erlebte heftige Panikattacke nach meiner Rückkehr auf meinen Alltag auswirkte, kann ich mich nicht erinnern. Das 10. Schuljahr scheint mir dennoch ein recht fröhliches Jahr gewesen zu sein. Aber klar war, dass ich nicht mit auf die große Klassenübergreifende Jahrgangsstufenfahrt zum Ski fahren mit fahren würde. Niemals! Obwohl ich gut integriert war, nette Freunde und Freundinnen hatte. Niemals wäre ich mit auf diese Fahrt gegangen. Aber auch da, keine Frage: Meine Mutter fand es gut, dass ich nicht mit fahren würde. Sie wollte mich ja kontrollieren können. Sie fragte auch nicht, warum ich nicht fahren will. „Keine Lust“ reichte ihr als willkommener Grund.
Erst schoben wir das fehlende Geld vor. Da gab es aber Zuschüsse und Hilfen. Alle wollten mir das Mitfahren ermöglichen.
Dann tat ich so, als würde ich aus Umweltschutzgründen nicht mit fahren wollen. Skifahren? Nein? Das zerstört die Umwelt. So konnte ich zu Hause bleiben. Traurig und froh zugleich. Ich fühlte mich ausgeschlossen und einsam.